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Jannis Ritsos - Die Weisheit des Zerbrechlichseins

  717 Wörter 3 Minuten 423 × gelesen
2020-04-13 2022-11-24 13.04.2020
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Giannis Ritsos

Bevor Jannis Ritsos seine letzte Ruhe finden konnte, soll es das Schmetterlärmen von Blechblasinstrumenten gegeben haben, offizielle Reden, offizielles Getue. Und das für diesen Autor, der mit einem seiner Monochorde bekundet hatte: „Von unten wird die Größe gemessen, von unten.“ Auch der schließlich Hochgerühmte wird zeitlebens sich immer wieder bewährt, sich stark gemacht haben müssen, aufgerichtet, er musste ausbalancieren können, damit nichts ihn aus der Bahn warf.

Ritsos sah viele Menschen zugrunde gehen, auf die eine oder andere Weise. Bürgerkrieg und Diktatur mit jedweden Schikanen und Demütigungen in Folterhöllen, Sadismus, Kriegsgräuel, verschiedene Arten von Kälte wie auch innerfamiliäre Tragödien in so genannten Friedenszeiten – Ritsos ging durch jede dieser Zeiten als wäre er nicht nur einer, sondern mehrere. Er konnte weiterleben, er schrieb, er zeichnete, er arbeitete als Lektor, Schauspieler, Sekretär, er wusste auch, wie ein Gourmet-Tomatensalat zubereitet wird. Immer und überall achtete er sehr auf sein Äußeres. Wenn möglich, trug er einen hellen Anzug, schlichte Freizeitkleidung und einen Sonnenhut allerdings, fuhr seine Frau ihn ans Meer. Im zweckmäßigen Sommerhaus inmitten eines großen Gartens schrieb er, zurückgezogen, in einem Zimmer mit blau gestrichenen Wänden. Vormittags und nachmittags, stundenlang. Er hörte die Musik von Bach, rauchte. Ein Glasvitrinenschrank mit Hunderten von Steinen, Wurzeln und Knochen, auf die er Figuren gezeichnet hatte. Es war ein spirituelles Leben. Ein seltener paradiesischer Zustand – für Ritsos von unermesslichem Wert. Sich vorzustellen, dass sein gesamtes, sehr umfangreiches, lebendiges, schriftstellerisches Werk auf eine einzige Disk würde gebrannt werden können, in nicht allzu ferner Zukunft, diese Vorstellung war für Jannis Ritsos in den 1980er Jahren ein Graus. Damals gab es die ersten Computer, graue Plastikkästen, von denen der Autor nichts wissen wollte. Er liebte seinen Füllfederhalter. Wenn er seine Gedichte zu Papier brachte, dann bedacht, er zeichnete die Schrift. Was man doppelt brauchte, wurde abgeschrieben. Kein Copy and Paste. In der jetzigen Zeit, die dem Handgemachten noch einmal huldigt, wäre Ritsos eine Kultfigur der Designer-Szene. Und jeden Tag könnte er die Trendfarbe Blau genießen. Herbst, Winter, Frühjahr wohnte er damals in einer kleinen Stadtwohnung, rauchte und schrieb. An den Wänden Kunstwerke kleineren und mittleren Formats. Überall Steine mit Zeichnungen. Ritsos wäre heute im 111. Jahr.

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Giannis Ritsos

Die Kindheit hatte er in einem beinah märchenhaften Ort verbracht – Monemvasia, auf der Peleponnes. Dorthin kehrten Ritsos‘ sterbliche Überreste schließlich zurück. Im Rücken des Ortes eine Felswand, nach vorn schaut man aufs offene Meer. Es gab Räume in diesem Dorf, die in Gestein hinein gehauen waren, etwas erweiterte Höhlen mit halbrunden Decken, als hätten sie auch als Miniaturkirchen taugen sollen, eines Tages vielleicht. Jahrzehnte später Fremdenzimmer der Hotellerie. Verwinkelte Wege, viele Heilige, viele Geschichten, viele Schicksale. Auch die Familie, in die Ritsos hineingeboren wurde, hatte ihr spezifisches Schicksal. Sie verarmte wegen der Spielsucht des Vaters, was gesellschaftlichen Abstieg bedeutete und Verlust des großen Wohnhauses. Jannis Ritsos war als Siebenjähriger ein schmächtiges, lyrisch und musisch begabtes Kind. Die Zeit, die er, an Tuberkulose erkrankt, als junger Mann in Sanatorien zubringen musste, ließ ihn Einsamkeit nicht nur ertragen, sondern sie lehrte ihn auch, das Alleinsein zu ersehnen, um tatsächlich Autor werden zu können. Schreibend hielt er andere Menschen auf Abstand, schreibend fand er Zugang zu anderen. Wenn Ritsos sprach, sprach er druckreif. Er vermied Unhöflichkeit, er wurde nie verletzend, er konnte etwas sehr Zerbrechliches unbeschadet durch eine riesige Stadt von einem zum anderen Ende tragen. Dass abermals eine Zeit angebrochen war, in der des Menschen Sadismus erneut offen ausgelebt werden könnte, wusste Jannis Ritsos bereits Ende 1989. Er hörte auf zu essen. Er ließ seine Haare nicht mehr schneiden. Er trauerte. Nach einigen Monaten starb er.

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Giannis Ritsos

Jannis Ritsos erfasste die Seele eines jeden seiner Mitmenschen und umgab sie mit einer Geschichte, um sie zu schützen. So wie das, was man atmen will, manchmal von hauchfeinem Porzellan geschützt werden muss, damit es einen Moment verweilen kann, immer gewahr, dass kein Schutz einer für ewig ist. Ritsos verwirklichte jeden Tag eine Idee vom Leben. Dieses Leben wurde immer dichter – eine seltene Substanz. Noch heute nimmt sie der Sterblichkeit den Schrecken.

Ina Kutulas
Berlin, Herbst 2019